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Siegfried Welty

Der Weg über die Straße

Auf unsere Seite gestellt mit freundlicher Genehmigung des Autors. Copyright: Siegfried Welty

1943 haben leibhaftige Justizräte in ihrer Wohnung im vornehmen Beethovenviertel Stallhasen gehalten. Es klingt heute paradox, aber so ein vornehmer Herr hatte es notwendiger als mein Großvater, der als ärmlicher MAN-Rentner neben den Hasen noch Hühner in seinem Gärtchen halten konnte.
Ich wohnte in dem Augsburger Vorort Pfersee und trieb mich am liebsten auf dem Griesmann-Bauplatz herum. Dieser Ort hieß so, obwohl dort von der gleichnamigen Firma nur kärgliches Baugerät gelagert wurde. Dessen allmähliches Verschwinden, je nach Holz­anteil, wurde von der Eigentümerin ebenso toleriert wie das Hinaus­wachsen von »verirrten« Tomatenstauden und Kartoffelbeeten aus den umgebenden Hausgärten. Wenn »Tante Thea« Griesmann ein­mal auftauchte, brauchte man nicht zu verschwinden. Sie ließ uns Kinder gewähren, wenn wir aus den verwilderten Holunder­büschen abgebrochene Zweige herausschleiften und die Äste zu Flöten, Blasrohren und Schleudergabeln umarbeiteten. Sie brauchte keine Verbotstafeln für ihre Autorität, und damals hafteten selbst­verständlich die Mütter-die Väterwaren im Krieg-und Großeltern für die Kinder. Wir ahnten damals nicht, dass sie seit 1942 an einer schweren Hypothek auf einem i x 2 m großen Grundstück ihres Mannes in Russland zu schleppen hatte.
Um an diesen Bauplatz zu gelangen, musste ich, von einer Seitenstra­ße her kommend, die breitere Adalbertstraße überqueren. Auf die­ser Straße wurde zweimal am Tag ein Zug mit ca. hundert KZ­-Häftlingen vorbeigeführt. Sie kamen oder gingen angeblich von der Zuckerwarenfabrik Reitenberger zur Nähfadenfabrik in Göggingen. Dieser gewohnte Anblick der Männer in Sträflingskleidung, die schwerfällig in plumpen Holzschuhen zwischen einigen auf den Gehsteigen mitschlendernden Posten daherschlurften, reizte meine Neugier längst nicht mehr.
 
Das Kind

Eines Tages schickte mich meine Großmutter mit Messer und Schüssel zum »Bauplatz«, um Millidisteln (Löwenzahn) zu stechen. Warum mir diese Arbeit so besonders verhasst war, kann ich mir bis heute nicht erklären. Ließ ich mich doch für gängige Hilfsarbeiten im Mietgarten gerne gebrauchen. Wasserpumpen z. B., wo man mittels ausgedienter Ofenrohre den Strahl in verschiedene Fässer lenken durfte und versuchte, durch ungleichmäßiges Pumpen die flinken Wasserläufer zu treffen, mochte ich sogar. Aber diese müh­same Arbeit, Hasenfutter zu suchen, trieb dem Siebenjährigen Trä­nen der Wut ins zornrote Gesicht. Lustlos und nachlässig stocherte ich eine mäßig volle Schüssel zusammen, geschickt höchstens im Vortäuschen größeren Volumens.
Auf dem Rückweg versperrte mir der Zug der KZler den Weg. Diese Bezeichnung war für mich wertfrei und nur zum Nachschreien anderen Buben gegenüber geläufig, denen man wegen der Läuse die Köpfe geschoren hatte. Während ich die Blechschüssel vor meinen Kinderbauch drückte, trat hastig einer der Drillichmänner zwei Schritte aus der Kolonne und griff sich eine Handvoll meines Grün­zeugs. Ich schrie sofort empört auf. Ob dadurch oder durch die Bewegung aus der Reihe aufmerksam geworden, schlug ein Posten mit dem Gewehr auf den Mann ein.
Am Ende dieses verlorenen Haufens wurde immer ein Kasten auf Eisenrädern mitgezogen; darauf hockten oder lagen manchmal welche. Auch der Misshandelte landete dort.
Beeindruckt hat mich das Geschehen nicht, wahrscheinlich weil ich kein Schreien oder Blut wahrgenommen habe. Ob ich den Vorgang zu Hause geschildert habe, weiß ich nicht mehr. Falls ja, dann bestimmt nur, um meinen kärglichen Ertrag zu rechtfertigen. Heute ist es eine Erinnerung wie andere auch, denn ich hätte mich bei Millidistelndiebstahl gegen jeden gewehrt. Erklären würde ich »ihm« das aber schon wollen. Diesen Menschen treffen? Ja, ob er sich in mir erkennt?

Das Opfer

Mit den Jahrzehnten habe ich mit meiner Vergangenheit zu leben gelernt. Die Träume, wie sie diejenigen, die sich an mir versündigt haben, nicht schlimmer heimsuchen könnten, entfernen sich. Der damaligen Wehrlosigkeit und der Angst vor dem Tod habe ich mich geduckt entgegengestellt. Heute glaube ich ruhig sterben zu können, denn ich bin einer der Auserwählten, denen das Leben zweimal vergönnt ist.
Wenn ich gelegentlich nach Augsburg komme, habe ich manches aus meiner schweren Zeit als KZ-Häftling erstaunlicherweise in positi­ver Erinnerung. Ich bin schon mehrere Male unsere Marschroute von und zur Arbeit gegangen. Die Tage mit bösem Regen, der uns den Stoff an die Haut frieren ließ, tun nicht mehr weh.
Wenn der Flieder aus den Vorgärten duftete, führte das Wissen,  wieder einen Winter überstanden zu haben, zu einem heute nicht mehr erlebbaren Hochgefühl. Frauen und Kinder badeten unter den zwei Eisenbrücken, die wir täglich polternd überquerten - es war Sommer. Man begegnete Radlern, die unsertwegen absteigen muss­ten; ich blickte in Gesichter, und die einen oder anderen Augen antworteten mir.
Wir hatten es gutgetroffen, da man ein »Soll« von uns verlangte. Wir wussten unser Glück besonders zu schätzen, da ein gewisser Nach­richtendienst funktionierte. Der Wille zu überleben wurde um so stärker, je mehr Schicksale aus der Gemeinschaft sich erfüllten. Mich hat Gott am Leben gelassen, obwohl ich ihn versucht habe. Wie konnte ich mich nur 1943 hinreißen lassen, einem Kind ein bisschen Grünzeug zu stehlen. Ich Untermensch einem Arier. Als ich nach dem Kolbenschlag auf dem Wagen lag, presste ich mir die Faust ins Gesicht, um nicht zu schreien. Ich spüre noch heute den widerlichen und doch nach Leben schmeckenden Duft der Löwenzahnmilch. Ich musste nicht nur überleben, denn das reichte ja nicht, ich musste mit den gebrochenen Rippen arbeiten können. »Arbeit macht frei«. Gott hat mich arbeiten lassen. Nur dieser kleine Mensch, wie kann der leben? Welche Macht kann denn schon ein Kind so erziehen? Wenn ich nur seine Entwicklung kennen würde! Ist er ein Herren­mensch geworden? Hat er unser Erlebnis verkraftet? Oder verges­sen? Den Menschen treffen, ja, ob er sich in mir erkennt?
 
Der Täter

Seit kurzer Zeit genieße ich meine Pension. Wir Eisenbahner müssen bis zum 65. Lebensjahr arbeiten. Das ist auch so eine Ungerechtig­keit -wenn man diese lange Zeit an sich vorüberziehen lässt. Gut, es gab auch Vorteile. Im Krieg zum Beispiel war man als Rangierer unabkömmlich und musste nur zusätzlich Luftschutz- oder Wachdienst leisten. Wenn ich lese, welche Verfahren heute noch angestrengt werden gegen Wärter in den KZs, die Leute haben doch längst durch ihre jahrzehntelange Angst vor Entdeckung gebüßt!
Und dann die Verdrehungen. Da würde heute eine Staatsaktion daraus gemacht, dass ich 1943 so einem Volksschädling die Knochen poliert habe. Ich hätte den sogar in den Rücken schießen dürfen-so
quasi »auf der Flucht erschossen«. Aber zu seinem Glück hat mein gutes Herz gesiegt. Würde der mich heute erkennen? Verkennen? Dankbar sein? Bestimmt nicht. Der Mensch vergisst ja so leicht. Besonders das Gute, das man ihm getan hat.
Dieser Sträfling lebte nach Kriegsende nicht auf Lebensmittelmar­ken. Allein mit seiner Wiedergutmachungszahlung hat er entweder eine Firma gegründet oder Grundstücke gekauft. Ich habe ihn Mil­lionär werden lassen, und er hat nichts dafür getan. So ist das immer schon gewesen: zur rechten Zeit die richtige Uniform.
Unsere Hände dürfen zeitlebens bestenfalls abheben, die Karten mischen und geben tun die nagelgefeilten. Sakko und Hose sind bei denen Ton in Ton, und sie haben je nach Erfordernis den passenden Anzug im Schrank. Ich trage eine Kombination von schwarz + rot, gehe demgemäß jeden Sonntag vor dem Frühschoppen in die Kir­che, zahle Kirchensteuer, aber auch SPD- und Gewerkschaftsbei­träge.
Vor meiner Silberhochzeit habe ich sogar gebeichtet. Obwohl, das war nur eine Formsache. Womit kann sich denn unsereins über­haupt versündigen? Das mit der geglückten »Fehlgeburt« meiner Frau hätte der junge Kaplan ohnehin durchgehen lassen, darum habe ich es gleich gar nicht gesagt. Vor Ostern ist deshalb die Schlange vor seinem Beichtstuhl auch doppelt so lang wie vor dem des alten Stadtpfarrers.
Die Wegstrecke der KZler von damals spaziere ich manchmal nach. Der Vorort ist heute eine gute Adresse. Die alten Häuser wurden geschmackvoll und für viel Geld herausgeputzt, sind wahrschein­lich schöner als ursprünglich, die Halterungen der Dachrinnen jetzt kupfern. Vorher waren sie eisern. Man konnte dabei die Hälften der geteilten Eisenringe verwenden, durch die man früher die Fahnen­masten gesteckt hatte. Vorsichtshalber hatte man diese Befestigun­gen beim Einmarsch der Amerikaner vom Gartenzaun abge­schraubt und die Holzstangen verheizt.
Schön, daß Luftangriffe so eine Großfamilie von Häusern verschont hatten. Auch vom Nationalsozialismus bekam man dort nicht viel mit. Hier wurde untereinander geheiratet, geerbt, aus Angestellten wurden Handlungsbevollmächtigte und aus Amtsrichtern Ober­amtsrichter. Ich liebe diese Beständigkeit. Auch die Straßennamen wurden, wenn schon, dann nur geringfügig angepasst. Aus Adal­bertstraße wurde Hans-Adlhoch-Straße. Bestimmt auch einer von denen mit der rechten Uniform zur rechten Zeit.
 
Anmerkung:
Hans Adlhoch, geb. 1884 in Straubing, war Arbeitersekretär der katholischen Arbeitnehmerbewegung in Augsburg. Nach Gestapo­haft 1935 wurde er nach dem 20. Juli 1944 ins KZ Dachau gebracht. Er starb am 21. Mai 1945, wenige Tage nach der Befreiung, an den Folgen totaler Erschöpfung unerkannt in einem ungarischen Mili­tärkrankenhaus in München.
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