SIEGFRIED WELTY
Heimkehr zum Tatort
Auf unsere Seite gestellt mit freundlicher Genehmigung des Autors. Copyright: Siegfried Welty
Selbstverständlich zieht es jeden Mörder an den Tatort. Ursache dafür ist selten das sogenannte Gewissen, jedenfalls bei mir nicht. Ich hätte nur geradezu zwanghaft den Ort des Geschehens ohne den Sturm der Gefühle in mich aufnehmen wollen. Ob mich die Leiche und deren Bestattung wirklich interessierten, vermag ich nicht zu entscheiden. Am meisten trieben mich jedoch die Angst vor Entdeckung und der Zweifel an meiner Geschicklichkeit herum: da hätte ich fürs Leben gern die Ermittlungen am Tatort verfolgt. So fühlte ich mich als Opfer meiner Hilflosigkeit. Aber damals, vor fast zwanzig Jahren, konnte ich dem Zug zum Mordhaus oder in dessen Nähe widerstehen. Man sollte vielleicht Tatverdächtige unter dem Gesichtspunkt beobachten, ob sie selbst logische Wege in den Bereich des Verbrechens vermeiden.
Die Tat ist in mir völlig verschollen, und nur gelegentlich bringen Anstöße von außerhalb eine Erinnerung hoch. Wer kennt schon den Herrn seiner Entscheidungen? Ich scheine es jedenfalls selbst zu sein, der Europa und die Kaserne wieder sehen will. Dass ich diese Reise alleine antrete, liegt an meinem Widerwillen gegen Frauen. 0 doch, immer wieder einmal löst eine Begegnung Begierde in mir aus, und nicht selten erfüllt sie sich auch: aber das ist wie mit der Reise: Irgendwelche Mehrheiten in meinem Ich lehnen letztlich doch eine dauerhafte Beziehung ab.
Als ich Augsburg wiedersehe, bestätigen sich meine Annahmen. Ich finde erhebliche Veränderungen vor, erkenne sie an Material und Form. Lieblose Erinnerungen habe ich an eine willkürliche Ansammlung vieler kleiner Häuser mit Vorgärten und an primitive Lokale.
Der Verkehr ist hektisch geworden, und die erweiterten Straßenzüge sowie deren Einrahmung kommen mir heute heimatlich vertraut vor. Während ich mich ohne Hast meinem Ziel nähere, kommt es mir immer wahrscheinlicher vor, dass das Haus, dessen Nummer und Straßennamen ich noch nie gewusst habe, verschwunden sein wird. Ich rede mit mir darüber ohne Erleichterung oder Enttäuschung. Schon von weitem scheint eine große weiße Kirche, die einen damals leeren Platz ausfüllt, mein Selbstgespräch zu bestätigen.
Ich zögere bewusst, hole in meine Augen die Fassade von 1969 und trete so, wie blind, um den letzten Bunker meines Gedächtnisses.
Da steht mir das Haus gegenüber. Ich schließe meine Augenlider und fahre sanft wie ein Wunderheiler mehrmals mit der Handmuschel übers Gesicht. Dass meine Augen funktionieren, beweist das Heller- und Dunklerwerden beim jalousieartigen Verschieben meiner Finger. Auch mein Gehirn muss richtig reagieren, denn ich nehme die große Reklametafel mit der Zigarettenmarke wahr, die es damals noch nicht gegeben hat.
Ich hypnotisiere das Haus. Die Schrift mit den beiden Namen und den fremden Worten, die ich immer noch nicht verstehe, haftet unverändert auf dem rauen Putz. Auch die Farbe scheint mir gleichgeblieben, obwohl ich nie wusste, wie sie war, nur macht sie jetzt den Eindruck alter Haut. Alle Fensterläden im Parterre sind verschlossen. In den oberen Geschossen deuten fleckige Gardinen auf Bewohner hin. Und jetzt grellt mir etwas ins Hirn, was ich die ganze Zeit schon sehe, bereits gesehen haben muss, vor ich um die letzte Straßenecke bog: Der Rollladen vor der kleinen Türe hängt schräg wie damals. So schief wie vor Jahrzehnten. Ich weiß es genau. Ich habe die Lamellen beobachtet. Vorher. Mehrmals. Ich wollte sicher sein, dass sie zuverlässig schlössen, wenn ich es brauchte. Wenn sie noch unentdeckt in ihrem Laden läge? So etwas wie Hoffnung fühle ich, wie Befreiung von Schuld. Wenn sie jetzt noch mumifiziert da wäre, nicht von Erde durchdrungen, hätte ich sie nicht getötet. Sie ist gestorben, kauert friedlich in ihrem Laden. Sie hat zwanzig Jahre überlebt, so alt wäre die Alte nie geworden. Ich muss hier weg, laufen, denken, logisch denken, ordnen, ruhig werden.
Es kann nicht sein. Sie hatte ja ein kleines Geschäft für Straßenbahnkarten und Tabakwaren betrieben. Da kamen Lieferanten, Finanzamt, laufende Ordnungsvorgänge, da konnte man nicht unbemerkt Laden und Leben in Liquidation gehen lassen.
Nach wenigen Schritten stoße ich auf eine mir bekannte Pizzeria. Auch sie scheint unverändert, muss es wohl auch sein, denn es herrscht noch der gleiche mürrische, so gar nicht südländische Patron. Dieses aus hartgewordenem Teig gekrustete Fossil hat noch nicht einmal die Vorhänge gewechselt, so strähnig hängen sie herunter.
Meine langen, gierigen Schlucke des ungewohnten Bieres vermischen sich mit den Rinnsalen aus schwarzweißen Ortsbildern und stoßweise aufeinanderfolgenden Momentaufnahmen aus dem Gedächtnis. Ich habe das Gefühl, wie in einem Fluss von der Strömung geschoben zu werden, und Kieselsteine treiben, indem sie sich knirschend davonmachen, meine Füße immer unaufhaltsamer dorthin.
Ich betrat den Laden, und unsere Augen hielten einander stand. Der schnarrende Ton der wackligen Klingel brauchte sie nicht zu rufen, das streifende Geräusch der Türe hatte sie schon in Bereitschaft versetzt. Sie war eine alte, aber starke Frau, und vom ersten Kreuzen unserer Blicke an wussten wir um unsere Verbindung. Sie witterte sofort Gefahr, aber das Gefühl, sie erkannt zu haben, verleitete sie zu Überlegenheit. Ein GI kaufte seine Zigaretten in der PX, und Straßenbahnschaffner zahlte man notfalls mit Scriptdollars; Wechselvorgänge über fünf Mark aber pflegte sie grundsätzlich mit dem Hinweis auf ihre magere Kasse abzublocken. So blieb nur zu fragen übrig. Antwort gaben ihr harter, kalter Blick und ihre abweisend hochgezogene, behaarte Oberlippe. So zeigte sie Widerstand, Feindseligkeit und Kampfbereitschaft. Mein Abgang wurde von einem dunklen, ausgesprochen männlichen Kehllaut begleitet. Wir waren bereit, uns wieder zu begegnen. Schon heute lag die Unsicherheit bei mir, denn ich fühlte mich spöttisch dabei ertappt, jede geringste Fingerspur zu vermeiden.
Am Mordtag, den ich als solchen nicht geplant hatte, tauchte ich rasch und unauffällig in die Ladenstube ein. Es war kurz nach dem allgemeinen Geschäftsschluss, aber sie gab gewöhnlich einige Minuten zu. Obwohl sie die Hände abwehrend hob, machte die Alte mit vorgestrecktem Kopf zwei Schritte auf mich zu. Noch hatte ich keinen Laut von mir geben oder gar drohen können. Ich hatte mir auch keine Vorstellungen gemacht, wie ich an die Schublade mit der Kasse kommen könnte. Die nächsten Sekunden sind wie von einem Wirbel aus meinem Gehirn gesogen. Ich habe mit den Fäusten geschlagen und einen ekelerregenden Hals gewürgt, weiß-aber nicht mehr die Reihenfolge. Dann muss ich den Rollladen herabgelassen haben; an sein unregelmäßiges Poltern und den fallbeilartigen Aufprall glaube ich mich noch zu erinnern. Die Frau lag mit dem Oberkörper über dem Ladentisch und presste mehrere klare Worte in ihrer fremden Sprache aus der blutigen Mundöffnung. Heute glaube ich, dass sie mir verstecktes Geld anbieten und sich so ihr Leben erkaufen wollte. Ich fühle mich bei dieser Vorstellung wie der Vergewaltiger einer Taubstummen, die ihren Widerstand längst aufgegeben hat.
Irgendwie machte ich ihren zeitlupenartigen Bewegungen ein Ende. Im Licht aus dem dahinter liegenden Raum nahm ich mechanisch Geld an mich und ging, ohne anzuhalten, uhrwerkhaft durch Wohnraum und Korridor zur Wohnungstür. Dort steckte ein Schlüsselbund, ich öffnete und war frei. War es nur das Zuziehen der Türe oder das unvergessbare Geräusch: Mein Verstand kehrte wieder, und ein Todesschrecken lähmte mich. In den Sekunden, da ich in das Treppenhaus hinauflauschte, stieß mehrmals das auspendelnde Schlüsselbund an die Innenseite der Türe. Bis ich diese Tatsache jedoch erkannt hatte, glaubte ich, die Tote wolle mich jetzt schon einholen. Jahre später ist mir bei einem Trödler ein Ring mit langen und kurzen, dünnen und dicken Schlüsseln aufgefallen, der sich einmal wie ein Pendel, dann 'wieder wie eine Hand zu bewegen schien.
Es ist dunkel, und ich stehe wieder vor diesem verfluchten Haus. Ich muss hinein, heute in umgekehrter Fluchtrichtung. Da existiert auf dem Fußboden, wie im Film, der zittrige Kreideumriss der Leiche, verwischt, verblichen vielleicht, aber Mittelpunkt meines Tatortes. Die Haustüre ist offen. Es riecht nach gewachstem Linoleum. Die Wohnungstüre fällt fast schon vom Dagegenlehnen nach innen. Im Flackerschein meines Feuerzeuges und zusammengerollter Zeitungsblätter, die ich zwischendurch anzünde, laufen Schatten über die Wände. Nichts ängstigt mich, ich bin heimgekehrt. Die hinfälligen Möbel, der knirschende Bretterboden und der Laden mit seinen blinden Glasscheiben: Wir registrieren uns gelassen.
Genauso ruhig folge ich den beiden jungen Polizeibeamten. Das Revier liegt nur über der Straße. Der Wachhabende spricht gut englisch. Meine Haltung ist sicher und abgeklärt. Ich habe mich gestellt, sie hat mir verziehen, ich habe ihre Absolution. Mich hat nicht ein Dritter, mich hat das Opfer selbst von meiner Sünde entbunden.
Allmählich begreife ich den Sachverhalt. Eine Überprüfung hat ergeben, dass ich niemals straffällig geworden bin, nirgendwo gesucht oder vermisst werde. Ein Einbruch ist bei dem Zustand der Wohnungstüre nicht nachzuweisen, Gegenstände selbst minimalen Wertes gibt es in der Wohnung nicht. Man geht davon aus, dass ein betrunkener, umherstolpernder Ausländer einfach irgendwo einen Ruheplatz gesucht hat. Ich bestätige es wahrheitsgemäß. Mein Pass und sicherheitshalber ein Geldbetrag werden einbehalten. Ich unterschreibe und erhalte eine gegengezeichnete Kopie. Danach bringen mich die beiden Polizisten in einen einfachen Gasthof.
Einen Polizeicomputer für Tatorte gibt es nicht. Reisepass und Geld werden nicht abgeholt und nach einem halben Jahr ordnungsgemäß in die Registratur übernommen. Da die persönlichen Daten nie abgerufen werden, wird das doppelseitige Protokollblatt des Mörders im gleichen Archiv begraben wie seinerzeit die Akte M. Ganser. Beide Vorgänge gelten statistisch als unaufgeklärt, die Aufarbeitung hat der Sachbearbeiter „Zeit" übernommen.
Fußnote: Am 19.09.69 wurde in der Sigmundstraße 34 die Geschäftsinhaberin Maria Ganser von einem Unbekannten ermordet und beraubt. Die Tat gehört zu einem Dutzend unaufgeklärter Morde an alleinstehenden Frauen in Augsburg zwischen 1966 und 1975.
Selbstverständlich zieht es jeden Mörder an den Tatort. Ursache dafür ist selten das sogenannte Gewissen, jedenfalls bei mir nicht. Ich hätte nur geradezu zwanghaft den Ort des Geschehens ohne den Sturm der Gefühle in mich aufnehmen wollen. Ob mich die Leiche und deren Bestattung wirklich interessierten, vermag ich nicht zu entscheiden. Am meisten trieben mich jedoch die Angst vor Entdeckung und der Zweifel an meiner Geschicklichkeit herum: da hätte ich fürs Leben gern die Ermittlungen am Tatort verfolgt. So fühlte ich mich als Opfer meiner Hilflosigkeit. Aber damals, vor fast zwanzig Jahren, konnte ich dem Zug zum Mordhaus oder in dessen Nähe widerstehen. Man sollte vielleicht Tatverdächtige unter dem Gesichtspunkt beobachten, ob sie selbst logische Wege in den Bereich des Verbrechens vermeiden.
Die Tat ist in mir völlig verschollen, und nur gelegentlich bringen Anstöße von außerhalb eine Erinnerung hoch. Wer kennt schon den Herrn seiner Entscheidungen? Ich scheine es jedenfalls selbst zu sein, der Europa und die Kaserne wieder sehen will. Dass ich diese Reise alleine antrete, liegt an meinem Widerwillen gegen Frauen. 0 doch, immer wieder einmal löst eine Begegnung Begierde in mir aus, und nicht selten erfüllt sie sich auch: aber das ist wie mit der Reise: Irgendwelche Mehrheiten in meinem Ich lehnen letztlich doch eine dauerhafte Beziehung ab.
Als ich Augsburg wiedersehe, bestätigen sich meine Annahmen. Ich finde erhebliche Veränderungen vor, erkenne sie an Material und Form. Lieblose Erinnerungen habe ich an eine willkürliche Ansammlung vieler kleiner Häuser mit Vorgärten und an primitive Lokale.
Der Verkehr ist hektisch geworden, und die erweiterten Straßenzüge sowie deren Einrahmung kommen mir heute heimatlich vertraut vor. Während ich mich ohne Hast meinem Ziel nähere, kommt es mir immer wahrscheinlicher vor, dass das Haus, dessen Nummer und Straßennamen ich noch nie gewusst habe, verschwunden sein wird. Ich rede mit mir darüber ohne Erleichterung oder Enttäuschung. Schon von weitem scheint eine große weiße Kirche, die einen damals leeren Platz ausfüllt, mein Selbstgespräch zu bestätigen.
Ich zögere bewusst, hole in meine Augen die Fassade von 1969 und trete so, wie blind, um den letzten Bunker meines Gedächtnisses.
Da steht mir das Haus gegenüber. Ich schließe meine Augenlider und fahre sanft wie ein Wunderheiler mehrmals mit der Handmuschel übers Gesicht. Dass meine Augen funktionieren, beweist das Heller- und Dunklerwerden beim jalousieartigen Verschieben meiner Finger. Auch mein Gehirn muss richtig reagieren, denn ich nehme die große Reklametafel mit der Zigarettenmarke wahr, die es damals noch nicht gegeben hat.
Ich hypnotisiere das Haus. Die Schrift mit den beiden Namen und den fremden Worten, die ich immer noch nicht verstehe, haftet unverändert auf dem rauen Putz. Auch die Farbe scheint mir gleichgeblieben, obwohl ich nie wusste, wie sie war, nur macht sie jetzt den Eindruck alter Haut. Alle Fensterläden im Parterre sind verschlossen. In den oberen Geschossen deuten fleckige Gardinen auf Bewohner hin. Und jetzt grellt mir etwas ins Hirn, was ich die ganze Zeit schon sehe, bereits gesehen haben muss, vor ich um die letzte Straßenecke bog: Der Rollladen vor der kleinen Türe hängt schräg wie damals. So schief wie vor Jahrzehnten. Ich weiß es genau. Ich habe die Lamellen beobachtet. Vorher. Mehrmals. Ich wollte sicher sein, dass sie zuverlässig schlössen, wenn ich es brauchte. Wenn sie noch unentdeckt in ihrem Laden läge? So etwas wie Hoffnung fühle ich, wie Befreiung von Schuld. Wenn sie jetzt noch mumifiziert da wäre, nicht von Erde durchdrungen, hätte ich sie nicht getötet. Sie ist gestorben, kauert friedlich in ihrem Laden. Sie hat zwanzig Jahre überlebt, so alt wäre die Alte nie geworden. Ich muss hier weg, laufen, denken, logisch denken, ordnen, ruhig werden.
Es kann nicht sein. Sie hatte ja ein kleines Geschäft für Straßenbahnkarten und Tabakwaren betrieben. Da kamen Lieferanten, Finanzamt, laufende Ordnungsvorgänge, da konnte man nicht unbemerkt Laden und Leben in Liquidation gehen lassen.
Nach wenigen Schritten stoße ich auf eine mir bekannte Pizzeria. Auch sie scheint unverändert, muss es wohl auch sein, denn es herrscht noch der gleiche mürrische, so gar nicht südländische Patron. Dieses aus hartgewordenem Teig gekrustete Fossil hat noch nicht einmal die Vorhänge gewechselt, so strähnig hängen sie herunter.
Meine langen, gierigen Schlucke des ungewohnten Bieres vermischen sich mit den Rinnsalen aus schwarzweißen Ortsbildern und stoßweise aufeinanderfolgenden Momentaufnahmen aus dem Gedächtnis. Ich habe das Gefühl, wie in einem Fluss von der Strömung geschoben zu werden, und Kieselsteine treiben, indem sie sich knirschend davonmachen, meine Füße immer unaufhaltsamer dorthin.
Ich betrat den Laden, und unsere Augen hielten einander stand. Der schnarrende Ton der wackligen Klingel brauchte sie nicht zu rufen, das streifende Geräusch der Türe hatte sie schon in Bereitschaft versetzt. Sie war eine alte, aber starke Frau, und vom ersten Kreuzen unserer Blicke an wussten wir um unsere Verbindung. Sie witterte sofort Gefahr, aber das Gefühl, sie erkannt zu haben, verleitete sie zu Überlegenheit. Ein GI kaufte seine Zigaretten in der PX, und Straßenbahnschaffner zahlte man notfalls mit Scriptdollars; Wechselvorgänge über fünf Mark aber pflegte sie grundsätzlich mit dem Hinweis auf ihre magere Kasse abzublocken. So blieb nur zu fragen übrig. Antwort gaben ihr harter, kalter Blick und ihre abweisend hochgezogene, behaarte Oberlippe. So zeigte sie Widerstand, Feindseligkeit und Kampfbereitschaft. Mein Abgang wurde von einem dunklen, ausgesprochen männlichen Kehllaut begleitet. Wir waren bereit, uns wieder zu begegnen. Schon heute lag die Unsicherheit bei mir, denn ich fühlte mich spöttisch dabei ertappt, jede geringste Fingerspur zu vermeiden.
Am Mordtag, den ich als solchen nicht geplant hatte, tauchte ich rasch und unauffällig in die Ladenstube ein. Es war kurz nach dem allgemeinen Geschäftsschluss, aber sie gab gewöhnlich einige Minuten zu. Obwohl sie die Hände abwehrend hob, machte die Alte mit vorgestrecktem Kopf zwei Schritte auf mich zu. Noch hatte ich keinen Laut von mir geben oder gar drohen können. Ich hatte mir auch keine Vorstellungen gemacht, wie ich an die Schublade mit der Kasse kommen könnte. Die nächsten Sekunden sind wie von einem Wirbel aus meinem Gehirn gesogen. Ich habe mit den Fäusten geschlagen und einen ekelerregenden Hals gewürgt, weiß-aber nicht mehr die Reihenfolge. Dann muss ich den Rollladen herabgelassen haben; an sein unregelmäßiges Poltern und den fallbeilartigen Aufprall glaube ich mich noch zu erinnern. Die Frau lag mit dem Oberkörper über dem Ladentisch und presste mehrere klare Worte in ihrer fremden Sprache aus der blutigen Mundöffnung. Heute glaube ich, dass sie mir verstecktes Geld anbieten und sich so ihr Leben erkaufen wollte. Ich fühle mich bei dieser Vorstellung wie der Vergewaltiger einer Taubstummen, die ihren Widerstand längst aufgegeben hat.
Irgendwie machte ich ihren zeitlupenartigen Bewegungen ein Ende. Im Licht aus dem dahinter liegenden Raum nahm ich mechanisch Geld an mich und ging, ohne anzuhalten, uhrwerkhaft durch Wohnraum und Korridor zur Wohnungstür. Dort steckte ein Schlüsselbund, ich öffnete und war frei. War es nur das Zuziehen der Türe oder das unvergessbare Geräusch: Mein Verstand kehrte wieder, und ein Todesschrecken lähmte mich. In den Sekunden, da ich in das Treppenhaus hinauflauschte, stieß mehrmals das auspendelnde Schlüsselbund an die Innenseite der Türe. Bis ich diese Tatsache jedoch erkannt hatte, glaubte ich, die Tote wolle mich jetzt schon einholen. Jahre später ist mir bei einem Trödler ein Ring mit langen und kurzen, dünnen und dicken Schlüsseln aufgefallen, der sich einmal wie ein Pendel, dann 'wieder wie eine Hand zu bewegen schien.
Es ist dunkel, und ich stehe wieder vor diesem verfluchten Haus. Ich muss hinein, heute in umgekehrter Fluchtrichtung. Da existiert auf dem Fußboden, wie im Film, der zittrige Kreideumriss der Leiche, verwischt, verblichen vielleicht, aber Mittelpunkt meines Tatortes. Die Haustüre ist offen. Es riecht nach gewachstem Linoleum. Die Wohnungstüre fällt fast schon vom Dagegenlehnen nach innen. Im Flackerschein meines Feuerzeuges und zusammengerollter Zeitungsblätter, die ich zwischendurch anzünde, laufen Schatten über die Wände. Nichts ängstigt mich, ich bin heimgekehrt. Die hinfälligen Möbel, der knirschende Bretterboden und der Laden mit seinen blinden Glasscheiben: Wir registrieren uns gelassen.
Genauso ruhig folge ich den beiden jungen Polizeibeamten. Das Revier liegt nur über der Straße. Der Wachhabende spricht gut englisch. Meine Haltung ist sicher und abgeklärt. Ich habe mich gestellt, sie hat mir verziehen, ich habe ihre Absolution. Mich hat nicht ein Dritter, mich hat das Opfer selbst von meiner Sünde entbunden.
Allmählich begreife ich den Sachverhalt. Eine Überprüfung hat ergeben, dass ich niemals straffällig geworden bin, nirgendwo gesucht oder vermisst werde. Ein Einbruch ist bei dem Zustand der Wohnungstüre nicht nachzuweisen, Gegenstände selbst minimalen Wertes gibt es in der Wohnung nicht. Man geht davon aus, dass ein betrunkener, umherstolpernder Ausländer einfach irgendwo einen Ruheplatz gesucht hat. Ich bestätige es wahrheitsgemäß. Mein Pass und sicherheitshalber ein Geldbetrag werden einbehalten. Ich unterschreibe und erhalte eine gegengezeichnete Kopie. Danach bringen mich die beiden Polizisten in einen einfachen Gasthof.
Einen Polizeicomputer für Tatorte gibt es nicht. Reisepass und Geld werden nicht abgeholt und nach einem halben Jahr ordnungsgemäß in die Registratur übernommen. Da die persönlichen Daten nie abgerufen werden, wird das doppelseitige Protokollblatt des Mörders im gleichen Archiv begraben wie seinerzeit die Akte M. Ganser. Beide Vorgänge gelten statistisch als unaufgeklärt, die Aufarbeitung hat der Sachbearbeiter „Zeit" übernommen.
Fußnote: Am 19.09.69 wurde in der Sigmundstraße 34 die Geschäftsinhaberin Maria Ganser von einem Unbekannten ermordet und beraubt. Die Tat gehört zu einem Dutzend unaufgeklärter Morde an alleinstehenden Frauen in Augsburg zwischen 1966 und 1975.